Sie ist klein, sie ist niedlich und sie hat keinen Namen. Eines Tages steht sie einfach da, mitten in Bogdans Stand am Wochenmarkt, sagt nichts, steht einfach nur da und wartet. Bogdan hat Mitleid mit der Kleinen, gibt ihr zu essen, zu trinken, umsorgt sie und von da an kommt sie jeden Tag. Etliche Tage lang.
„Am Morgen war sie da, am Abend war sie weg.“
Was Bogdan nicht ahnt, der Onkel des Mädchens bringt sie morgens zum Markt und holt sie des Abends wieder ab. Hier weiß er sie versorgt und er hat seine Ruhe, kann seinen wie auch immer gearteten Geschäften nachgehen. Doch eines Tages taucht der Onkel einfach nicht mehr auf, bleibt verschwunden, lässt das Mädchen im Stich. Der Markt schließt seine Pforten, die Lichter gehen aus und das Mädchen steht alleine da, inmitten einer ihr völlig unbekannten Welt. Sie beginnt auf gut Glück nach dem Onkel zu suchen und verliert sich in der großen Stadt.
Ein Buch, das wie ein Märchen anmutet und automatisch, ich denke aber auch ganz bewusst, Assoziationen zu Andersens „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ weckt. Und wie in jedem Märchen, so geht es auch hier um Gut und Böse und am Ende steht so etwas wie eine unumstößliche Erkenntnis, die Moral von der Geschichte, wenn man so will.
Dieses Buch könnte wirklich in jeder großen westeuropäischen Stadt spielen, in jeder Großstadt Europas, auch wenn mich als Leser vieles an Wien denken lässt (der Markt, hört sich sehr nach Naschmarkt an, das Kaffeehaus, in das sich das Mädchen an einer Stelle zum Schutz vor der Kälte flüchtet) und doch legt sich Michael Köhlmeier bewusst an keiner Stelle des Buches auf einen bestimmten Ort fest. Was hier passiert könnte überall passieren, auch direkt vor unserer eigenen Haustüre. Und so erhält das Buch in seiner ganzen Unverbindlichkeit eine Verbindlichkeit, indem es uns alle anspricht, jeden einzelnen von uns.
Ein kleines Mädchen irrt umher, verloren, einsam, verlassen. Eine Heimat hat es nicht mehr, vielleicht nie richtig gehabt. Sie friert, sie hat Hunger, die Welt da draußen ist bitter kalt. Doch wie in jedem Märchen findet sie immer wieder jemanden, der ihr hilft, ihr zulächelt, ihr die Hand reicht, sie badet, füttert, wärmt. Denn dieses kleine Mädchen hat einen großen Vorteil: Sie ist niedlich, gerade einmal 6 Jahre alt erregt die kleine noch Mitleid in den Herzen der Menschen, weckt den Beschützerinstinkt bei den Erwachsenen. Anders als die beiden ebenfalls heimatlosen Jungen, auf die sie im Laufe der Handlung trifft, diese sind beide schon etwas zu groß für Mitleid, sehen nicht so lieb aus.
„Die Freunde, das sind eine Horde von Zerlumpten, die bereits zu alt sind für Mitleid und Rührung.“ S. 140
Gemeinsam irren die drei durch eine düstere Welt, in der es keinen Platz für sie zu geben scheint. Sie kämpfen ums nackte Überleben, jeden Tag aufs Neue geht es nur um die nächste Mahlzeit, den nächsten warmen Schlafplatz für die Nacht. Schamhan, der ältere der Beiden, spricht ihre Sprache, mit ihm kann sie sich sogar unterhalten, Arian, den jüngeren hingegen versteht sie nicht. Insgesamt spielt die Sprache bzw. die Sprachlosigkeit eine große Rolle in diesem Buch. 3 Kinder, die die Welt um sich herum nicht verstehen und die Welt sie auch nicht. Auch untereinander ist die Verständigung nicht immer einfach. Dementsprechend betont sachlich ist auch Köhlmeiers Sprache, die Wortwahl reduziert, einfacher Satzbau, keine Schnörkeleien.
Ein ernstes Buch, eine traurige Geschichte. Kinder am Rande der Gesellschaft. Vergessen. Unbeachtet. Ein Leben in Dunkelheit. Doch Köhlmeier erhebt mit seinem Roman nicht etwa mahnend den Zeigefinger, nein, vielmehr bleibt er betont sachlich, erzählt uns die Geschichte ohne zu werten, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf ein Problem, dem wir uns immer mehr stellen müssen, über das wir so vielleicht noch nie nachgedacht haben, weil wir einfach davon ausgingen, dass es so etwas in unserer heutigen Zeit längst nicht mehr gibt. Und doch sind sie da, die neuen alten Probleme, von denen wir glaubten, dass sie unsere Gesellschaft längst hinter sich gelassen hat.
Ein Buch, das man mit seinen gerade einmal 140 Seiten schnell verschlungen hat, das man aber nur langsam verdaut und sicherlich noch lange nach seiner Lektüre einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt, denn was Köhlmeier hier beschreibt, geschieht jeden einzelnen Tag um uns herum. Wir müssen nur die Augen öffnen und hinsehen.