Ein Buch, das den Leser erst langsam für sich einzunehmen versteht. Ist man aber einmal in diesem interessanten und abenteuerlichen Spiel mit der eigenen Identität angekommen, entfaltet es eine unglaubliche Sogwirkung.
Eine in den USA bekannte Autorin und ein nicht ganz unbekanntes Thema
Auch wenn Vendela Vida bisher durch das deutsche Feuilleton keine große Aufmerksamkeit geschenkt wurde, so ist die 1971 geborene, us-amerikanische Autorin in der literarischen Welt keine Unbekannte. Vier Romane hat sie bereits veröffentlicht, Sich daneben als Herausgeberin des in San Francisco erscheinenden Kulturmagazins „The Believer“ einen Namen gemacht und nicht zuletzt kennt man sie als Ehefrau von Dave Eggers. In Vidas nunmehr fünften Buch geht es um den Verlust der eigenen Identität, um die Suche nach sich selbst. Wer sind wir? Was macht uns aus? Wie wichtig ist die eigene Identität – Name, Herkunft, Nationalität, Familie, Freunde, die eigenen Geschichte – für uns und die Entwicklung unsere Persönlichkeit? Wie fühlt es sich an, einmal den ganzen Ballast, der mit der eigenen Identität verbunden ist, hinter sich zu lassen und neu anzufangen? Befreit von der eigenen Vergangenheit und den eigenen Erinnerungen? Einfach einmal in neue Kleider schlüpfen, in eine neue Haut. Doch kann der Mensch einfach so mir nichts dir nichts loslassen, alles vergessen und sich vollkommen neu erfinden? Oder holt einen am Ende die eigene Geschichte wieder ein? Gut, das Thema ist nicht neu, aber Vidas Herangehensweise ist es, die schlussendlich überzeugt.
Der Albtraum eines jeden Reisenden
„Das Erste, was man bei der Ankunft in Casablanca tun sollte, ist, Casablanca zu verlassen.“ (S. 8)
Diesen wohlgemeinten Rat des Reiseführers liest unsere Protagonistin leider erst als sie sich bereits auf dem Flug von Miami nach Casablanca/Marokko befindet. Das Hotel vor Ort ist längst gebucht und die Weiterreise erst drei Tage später geplant. Wie ein böses Omen streicht dann der Portier beim Einchecken an der Rezeption auch noch ihren „Namen so gründlich durch, so gewaltsam, dass er spurlos verschwindet.“ (S.17) Ebenso spurlos wie kurz darauf ihr Rucksack: Ausweispapiere, Portemonnaie, Kreditkarten, Bargeld, Laptop, Kamera – einfach alles ist mit einem Schlag fort. Der Albtraum eines jeden Reisenden.
Eine folgenschwere Entscheidung
Zunächst scheinen die Dinge ihren normalen Gang zu gehen. Der Dieb ist auf der Überwachungskamera schnell ausgemacht, die Polizei informiert, ja, der Polizeichef selbst nimmt sich der Angelegenheit an – nur eine Frage der Zeit, bis unserer Hauptfigur geholfen wird. Doch dann nehmen die Dinge eine völlig überraschende Wendung. Ein Rucksack wird zwar sichergestellt, doch es ist der falsche. Die Frau auf dem Passfoto sieht ihr zwar ähnlich, aber es ist definitiv nicht der ihre. Dennoch, von einem inneren Impuls getrieben beschließt sie den falschen Rucksack, die falschen Papiere zu behalten. Die Kreditkarten sind glücklicherweise nicht einmal gesperrt und so wechselt sie das Hotel, schneidet sich die Haare, stülpt sich mir nichts dir nichts wie neue Kleider, einfach so, eine neue Identität über.
Die neuen Kleider scheinen ihr gut zu passen, sogar besser als die alten. Vom Identitätsballast befreit, fühlt sie sich zunächst ungewohnt frei und leicht und war sie nicht nach Casablanca gekommen, um sich selbst neue zu erfinden, die Vergangenheit hinter sich zu lassen? Doch wie lange kann ein solcher (Selbst-)Betrug gutgehen? Und so kommt es wie es kommen muss, eines Tages geht sie einen Schritt zu weit…
Die Wahl einer ungewöhnlichen Erzählperspektive…
…ist es, was uns als Leser zunächst ins Auge sticht. Vida lässt ihre Figur in der so ungewöhnlichen, wie von Autoren selten gewählten 2. Person Singular zu uns sprechen. Und dies nicht etwa vorübergehend, sondern durchgängig. In ebenso kurzen wie prägnanten Sätzen richtet sich die Protagonistin an uns bzw. an sich selbst, wie ein innerer Monolog, ein Selbstgespräch, das die Protagonistin mit sich führt und der Leser lauscht. Zunächst befremdet, dann interessiert und zunehmend fasziniert.
So seltsam uns dieses durchgängige „Du“ zunächst auch erscheinen mag, desto mehr Sinn ergibt es mit der Zeit und dem Fortschreiten der Handlung. Denn der Roman lebt von der Stimmung, den dieses „Du“ im Leser erzeugt, hat er sich erst einmal an die Perspektive gewöhnt. Und so erkennt man Seite für Seite, Abschnitt für Abschnitt, die Stärken und die Möglichkeiten, die diese Herangehensweise an den Stoff eröffnet. Der Leser erhält einen einzigartigen Einblick in die Gefühlswelt der Figur, ihre Wahrnehmung der Welt, der Menschen und der Dinge, die um sie herum geschehen. Auch wenn Vidas „Du“ gänzlich anders handelt, als des Lesers „Du“ es sicherlich tun würde. Gelingt es ihr dennoch so etwas wie Nähe zwischen beiden zu erzeugen. Eine Art innere Zwiesprache zwischen Leser und Figur entstehen zu lassen und ihn tief hineinzuziehen in dieses intensive, quälende, unsichere und verwirrende Gefühl der Identitätslosigkeit in einem fremden Land, der Verlorenheit und Einsamkeit der Protagonistin. Und je mehr man von ihrer traurigen Geschichte erfährt desto mehr beginnt man die Figur, die einem zunächst so fremd, so weit weg erschien, und ihr Handeln zu verstehen, ist fasziniert von der Geschichte, ihrem ungewohnten Aufbau und Erzählstil. Auch der Roman selbst scheint in neuen, literarisch ungewohnten Kleidern daherzukommen, aber in maßgeschneiderten.
Eine Frage, die mir während der Lektüre ständig durch den Kopf ging: Würde dieser Roman auch ohne diese besondere Erzählperspektive funktionieren? Vielleicht, ich denke aber nicht, dass er die gleiche Faszination, den gleichen Reiz auf den Leser ausüben würde.
Die Quintessenz des Ganzen
Vidas Roman zeigt den schwierigen Weg einer Frau hin zu mehr Freiheit, Selbstbestimmtheit und Selbstbewusstsein auf, die es ihr ganzes bisheriges Leben lang gewohnt war, sich anderen, stärkeren Personen unterzuordnen und die nun durch äußere Umstände dazu gezwungen wird, alles noch einmal neu zu überdenken, sich selbst neu zu erfinden. „Des Tauchers leere Kleider“ schildert den persönlichen Kampf dieser Frau, der man den Boden unter den Füssen weggezogen hat und die drohte unterzugehen, zurück zur Wasseroberfläche, hin zu neuen Ufern und einem ganz neuen Leben.
„Es gibt Phasen in der Evolution, in denen manche Arten in ihrer Entwicklung stagnieren, weil es keine Notwendigkeit für Veränderung gibt. Aber dann, meistens aufgrund von Umweltveränderungen, müssen sie sich ganz schnell anpassen. So entstehen neue Arten.“ (S. 115)
„Extreme Umstände erfordern radikale Veränderungen. Zumindest für den, der überleben will.“ (S. 116)
Und das will sie.