Über den kunstvollen Umgang mit Wahrheit und Fiktion

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2013 erschien Delphine de Vigans Buch „Das Lächeln meiner Mutter“. Ein autofiktionaler Roman, indem sich die Autorin mit dem Freitod der eigenen, Zeit ihres Lebens an Depressionen leidenden, Mutter auseinandersetzte. Ein sehr persönliches Buch, welches in Frankreich und auch in Deutschland zu einem Riesenerfolg wurde. Und wie ja allgemein bekannt sein dürfte zieht ein solcher Erfolg natürlich ein enormes mediales Echo nach sich. Eine Pressekonferenz jagt die andere, Buchmessen, Lesungen, Signierstunden, Radio- und Fernseheinladungen. Doch was kommt nach dem Erfolg? Wenn sich so langsam alles wieder etwas beruhigt? Das nächste Buch, ist man versucht so ganz locker zu sagen. Nach dem Roman ist vor dem Roman, oder so ähnlich. Doch was, wenn man dem Erwartungsdruck nicht standhalten kann? Nicht dem eigenen und schon gar nicht dem der Leser? Wenn man sich selbst mit der Frage konfrontiert sieht, was nach einem solch intimen Buch, nach so viel Wahrheit, überhaupt noch folgen kann? Noch mehr Wahrheit, die reine Wahrheit oder kann man einfach so wieder zur reinen Fiktion übergehen?

Eine Frage, die Delphine in diesem Buch auch von der mysteriösen L. gestellt wird. L., die sie eines Tages auf einer Party kennenlernt. L., die scheinbar die „echten, die wichtigen Fragen“ stellt und mit diesen, bei der bereits an sich zweifelnden Delphine, auf fruchtbaren Boden stößt. L., die für Delphine und ihre Bücher ein „tiefes und immer neues Interesse“ zeigt. L., die so viel über sie zu wissen scheint und sie versteht wie keine andere. L., die sich so mir nichts dir nichts in ihr Leben schleicht, davon Besitz ergreift, sich darin einrichtet, ihr Schreiben beeinflusst, ihr die Energie raubt, bis hin zur absoluten Schreibblockade. Delphine bemerkt es zwar, doch lässt es geschehen, denn auf seltsame Weise ist ihr diese Frau nah, ja schon fast unheimlich vertraut.

Doch wer ist diese Frau, die sich scheinbar unaufhaltsam in Delphins Denken, Leben und Handeln festschweißt? Und was ist dieses Buch Wahrheit oder Fiktion? Frei erfunden oder „Nach einer wahren Geschichte?

Und schon wären wir bei einem der zentralen Themen angelangt:

Wieviel Wahrheit steckt in diesem Buch bzw. wieviel Wahrheit braucht ein Buch?

Wer kennt sie nicht diese Fragen von Lesern, Kritikern und Moderatoren: Wieviel Autor steckt in diesem Buch? Inwieweit wurde der Roman von persönlichen Erlebnissen des Autors und realen Begebenheiten beeinflusst? Und erwischt man sich nicht selber immer wieder dabei, wie man sich nach einer bestimmten Lektüre in Versuchung sieht zu googeln, nachzuforschen, bei einer Lesung, einem Interview nach dem Wahrheitsgehalt zu fragen…?

Genau mit dieser Grundneugier des Lesers spielt dieses Buch. Faszinierenderweise existieren bis auf L. alle im Roman vorkommenden Personen im wahren Leben tatsächlich (ja, ich gestehe, schuldig, ich habe gegoogelt). Zudem setzt die Handlung des Romans genau an der Stelle ein, an der wir Delphine bei ihrem letzten Buch verlassen haben, einige Monate nach dem Erscheinen ebendieses Buches. Doch gleichfalls stellt das,  Eingangs des ersten Teils „Verführung“ aufgeführte, Stephen King Zitat unweigerlich klar, dass hier Wahrheit und Fiktion aufs meisterlichste vermischt werden, dass hier nicht alles so ist wie es zu Anfang scheint:

„ –als wäre er eine Person in einem Buch

oder einem Theaterstück,

eine Person, deren Erinnerung nicht wie

Geschichte wiedergegeben,

sondern wie Literatur erfunden wurde.“

Stephen King

Ein Zitat aus „Sie“ (manchen auch besser bekannt als „Misery“). Ein Zitat, das im Leser schon eine gewisse Vorahnung auf das Kommende aufkeimen lässt. Nicht zufällig scheint das Kürzel L. (im französischen „Elle“ ausgesprochen, wie das französische Wörtchen für „Sie“) gewählt. Und schon ist sie da, diese unglaubliche Spannung, die es braucht, um den Leser von Seite zu Seite zu ziehen. Diese aufkeimenden Fragen, auf die man unbedingt eine Antwort will. Wo führt uns dieses Buch am Ende hin? Wer ist diese L.? Wie weit wird L. gehen? Wie weit wird diese verhängnisvolle Freundschaft im Ungleichgewicht am Ende gehen? Gibt/gab es L. wirklich? Oder ist sie am Ende gar nur eine Projektion des eigenen Alter Ego der Autorin auf eine Romanfigur? Stellt sie am Ende ihrem eigenen „Ich“ eine fiktionale Person gegenüber, die all das ausspricht, sie mit all dem konfrontiert, was sie selbst in ihrem tiefsten Inneren beschäftigt? Spricht L. am Ende nur das aus, was Delphine de Vigan sich selbst nicht zu fragen traut? Und wer hat dieses Buch geschrieben L. (die am Ende eines jeden Buches das Wörtchen „Ende“ mit einem Sternchen versieht) oder Delphine? Handelt es sich bei den Frauen gar nur um zwei Seiten ein und derselben Person?

Fragen über Fragen….

….die dieses spannende Stück Gegenwartsliteratur aufwirft, welches so gekonnt mit Dichtung und Wahrheit und der feinen Grenze dazwischen zu spielen versteht. Fragen die am Ende immer wieder in der einen einzigen, häufig gestellten und die Gesetze des Literaturbetriebs bestimmenden allgegenwärtigen Frage enden:

Wie wichtig ist der Wahrheitsgehalt eines Romans für den Leser wirklich?

Eine Frage, deren Antwort sich jeder nur für sich selbst geben kann. Ich persönlich verfüge natürlich, wie jeder Mensch, über eine ganz gehörige Portion Neugier und dennoch: Möchte ich wirklich am Ende alles über ein Buch, seinen Autor und die Hintergründe seiner Existenz bis ins kleinste Detail wissen? Birgt nicht jede Fiktion auch ein gewisses Maß an Realität? Speist sich nicht gerade die Fantasie eines Autors von seinen ganz persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen? Und liest nicht jeder ein Buch anders, interpretiert es nach seiner höchsteigenen Lebens- und Leserealität? Liegt nicht gerade im Nichtwissen die Faszination, nicht nur dieses Buches im Besonderen, sondern jeglicher Literatur? Und zerstört nicht ein Zuviel an Wissen diesen ganz besonderen Zauber der einer jeden Geschichte innewohnt? Ich zumindest glaube fest an die Kraft der Fiktion.

Um es mit Goethes Theaterdichter aus „Faust“ zu sagen:

„Ich hatte nichts und doch genug: Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug.“

Und so bleibt doch zum Schluss nur eine entscheidende Frage zu beantworten….

Würde ich dieses Buch weiterempfehlen?

Und da sage ich: UNBEDINGT! „Nach einer wahren Geschichte“ ist nicht nur ein gekonntes Verwirrspiel um Fiktion und Wahrheit, sondern allem voran, ein spannend zu lesendes, absolut klug konstruiertes, wundervolles Stück Literatur – irgendwo zwischen Roman, Krimi und Thriller – und schon jetzt eines meiner Lesehighlights 2016.

Und wer weiß, vielleicht ist ja gerade dieses Buch in seiner ganzen Unklarheit und Uneindeutigkeit besonders ehrlich…..;-)

ENDE*


Fakten am Rande:

Für „Nach einer wahren Geschichte“ erhielt Delphine de Vigan bereits den renommierten Prix Renaudot und den vom französischen Bildungsministerium ausgelobten Prix Goncourt des Lycéens (einen der höchsten Literaturpreise Frankreichs). Der Roman wird von Roman Polanski mit Emanuelle Seigner in der Hauptrolle verfilmt, derzeit arbeitet de Vigan mit Olivier Assayas am Drehbuch.

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Format: Hardcover, gebunden, 350 Seiten

Verlag: Dumont

Erscheinungstag: 15.08.2016

ISBN: 978-3-8321-9830-5

Unverb. Preis: 23,- EUR

 

Weitere empfehlenswerte Bücher der Autorin:

  • „No & Ich“ von Delphine de Vigan
  • „Das Lächeln meiner Mutter“ von Delphine de Vigan

Bücher, die Dir auch noch gefallen könnten:

  • „Luna Park“ von Bret Easton Ellis
  • „Sie“ von Stephen King
  • „Stark. The Dark Half“ von Stephen King

8 Gedanken zu „Über den kunstvollen Umgang mit Wahrheit und Fiktion

  1. Ohh, was für eine grandiose Rezension. Vielen vielen Dank dafür, da sagst du so viel Wahres! Ich hatte das Buch auch schon ins Auge gefasst und würde es am liebstne sofort lesen, dafür müsst ich es allerdings erst einmal kaufen :D. AA bin ich neugierig..und ich sollte auch dringend das andere Buch von ihr lesen, selbst dass hast du mir direkt mit schmackhaft gemacht! glg Franzi

    • Hallo Katja,
      das Buch ist wirklich absolut klasse. Einmal angefangen kann man es kaum noch aus der Hand legen, noch dazu ist es absolut wunderschön gestaltet. Bei diesem Buch stimmt einfach alles.
      Ganz liebe Grüße, Heike

  2. Das Buch ist mir in letzter Zeit so oft begegnet und hat mich neugierig gemacht. Nachdem ich nun deine tolle Rezension gelesen habe, bin ich davon überzeugt, dass ich es unbedingt lesen muss. Die Fragen, die es aufwirft und die Mischung aus Wahrheit und Fiktion finde ich überaus reizvoll ;). LG Anka

    • Hallo Anka,
      ich kann es Dir wirklich nur empfehlen. Mich hat die Autorin absolut überzeugt und ich habe mittlerweile auch ihre anderen bisher auf Deutsch erschienenen Bücher gelesen und ich fand jedes auf seine ganz eigene Weise klasse. De Vigan schreibt einfach phantastisch.
      Ganz liebe Grüße und ich wünsche Dir noch ein wunderschönes Restwochenende, Heike

  3. Ich muss gestehen, ich habe noch kein Buch der Autorin gelesen. Habe aber eben dieses Buch schon häufig bei anderen Bloggern gesehen. Und irgendwie übt es eine unausgesprochene und merkwürdige Anziehung auf mich aus.

    Und Chapeau! Deine Buchbesprechung ist eine ganz wunderbare. Liest sich unglaublich leicht und doch ist es keine 08/15-Rezension. Du hast diese merkwürdige Neugier auf das Buch damit nur verstärkt!

    Liebste Grüße
    Rebecca

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