Vom steten Lauf der Dinge

Mal fließt sie langsam und gemächlich dahin, mal vergeht sie rasend schnell. Mal scheint sie sich unendlich auszudehnen, dann zieht sie sich wieder aufs äußerste zusammen. Mit fortschreitendem Lebensalter scheint sie immer schneller zu vergehen. Die Rede ist von der Zeit. Niemand vermag sie anzuhalten, keiner zu beeinflussen, keiner zu stoppen. Sie fließt dahin, vergeht unbarmherzig. Zeit – ein Phänomen, das die Menschen schon seit jeher bewegt.

coxoderderlaufderzeit

Wer hat ihn nicht schon einmal geträumt, diesen unsäglichen Traum von der Ewigkeit. Doch unaufhaltsam rinnt sie dahin, unsere Lebenszeit. Und wenn es eine Gewissheit gibt im Leben und auf Erden, so ist es unsere eigene Endlichkeit. Eine unumstößliche Tatsache, für manchen schwer zu akzeptieren, erst recht, wenn man der Kaiser von China, der vermeintlich mächtigste Mann der Welt ist, dem Titel nach alleiniger Herrscher über die Zeit.

Und so lädt Qiánlóng, der vierte Kaiser der Qīng-Dynastie, „Herr der zehntausend Jahre“, den englischen Automatenbauer und Uhrmacher Alister Cox an seinen Hof ein.

„Der Kaiser wollte, daß Cox ihm für die fliegenden, kriechenden oder erstarrten Zeiten eines menschlichen Lebens Uhren baute, Maschinen, die gemäß dem Zeitempfinden eines Liebenden, eines Kindes, eines Verurteilten und anderer, an den Abgründen oder in den Käfigen ihrer Existenz gefangenen oder über den Wolken ihres Glücks schwebenden Menschen den Stunden- oder Tageskreis anzeigen sollten – das wechselnde Tempo der Zeit.“ (S. 83)

Was zunächst für Cox und seine Gefährten kein größeres Problem darzustellen scheint, lediglich eine neuerliche Herausforderung, entwickelt sich schnell zu einem riskanten Unterfangen. Denn der Kaiser wird immer maßloser in seinen Wünschen und so fordert er eines Tages den Bau eines ganz besonderen Zeitmessers:

„Eine Uhr für die Ewigkeit. Die Uhr aller Uhren. Perpetuum mobile…“ (S. 217)

Und auch wenn Cox um die Unmöglichkeit eines solchen Wunsches weiß, macht er sich ans Werk, denn einem Kaiser widerspricht man nicht.

Mit „Cox oder Der Lauf der Zeit“ führt uns Christoph Ransmayr tief hinein in die Welt des alten Chinas, hinein in die verbotene Stadt und an den Hof eines allmächtigen Despoten. Ein Ort, an dem man nur allzu schnell seinen Kopf verliert, an dem man niemanden trauen kann. Ein Ort, absoluter Schönheit und zur Schau getragenen Reichtums, aber auch unsäglicher Ängste, Schmerzen und Qualen. Ein Ort strenger Regeln, Riten, Sitten und Bräuche, über die sich nicht einmal ein Kaiser so einfach hinwegsetzen kann, ohne dabei Misstrauen und Unmut zu erregen, wenn auch hinter hervorgehaltener Hand.

Ein meisterliches Spiel mit der Zeit, der Geschichte, historischen Fakten und Figuren, über das wir bei aller Begeisterung nicht vergessen dürfen, dass es sich nur um einen Roman handelt, um reine Fiktion. So hat der wahre, der historische Uhrenbauer James Cox, der für die Figur des Alister Cox als Vorbild diente, chinesischen Boden nie betreten. Der Kaiser und er sind sich nie begegnet, auch wenn zahlreiche seiner Werke noch heute in den Pavillons der Verbotenen Stadt zu sehen sind. Allein die Liebe und Leidenschaft zur Kunst der Zeitmessung verband die beiden über Kontinente hinweg.

Mit „Cox oder Der Lauf der Zeit“ hat einmal mehr einer der großen Fabulierer unserer Tage sein Können unter Beweis gestellt. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt, über uns, das Leben, den Gang der Dinge und den Lauf der Zeit. Denn unerbittlich schlägt er, der Takt der Zeit, gibt uns täglich unseren Rhythmus vor. Mal schneller und mal langsamer. Und wer weiß, vielleicht sind es am Ende nur unsere Worte und Taten, die die Zeit zu überdauern wissen, wenn überhaupt.

„…selbst wenn ein Mensch sich im Glauben wiegt, Herr über die Zeit zu sein, beginnt sie doch mit jedem verstrichenen Jahr seines Lebens, während so vieles an ihm träger und langsamer wird, rascher zu fließen. Kaum hat er seine Liebsten um sich versammelt, um mit ihnen einen Festtag zu begehen, ist ein weiteres Jahr verflogen, und er beginnt allmählich, dem Verurteilten ähnlicher zu werden, der den Tag seiner Hinrichtung erwartet.“ (S. 80 f)

Und wenn wir das nächste Mal einer Schnecke begegnen, dann sollten wir immer daran denken, dass sie in China als Zeichen für Reichtum und Glück steht.

„Denn nur wer den Luxus der Langsamkeit genießen konnte, durfte sich in dem Traum wiegen, das kostbarste aller menschenmöglichen Güter zu besitzen. Zeit.“ (S. 270)

(Bei diesen Worten fühlte ich mich an meine Kindheitstage und an die Geschichte von „Momo“ von Michael Ende erinnert, nur waren es hier die Schildkröten.)

043-1Erschienen ist „Cox oder Der Lauf der Zeit“ von Christoph Ransmayr beim S.Fischer Verlag.

Hardcover

unverb. Preis € (D) 22,00 | € (A) 22,70
ISBN: 978-3-10-082951-1

9 Gedanken zu „Vom steten Lauf der Dinge

  1. Trotz der vielen begeisterten Besprechungen bin ich immer noch nicht ganz überzeugt, dieses Buc zu kaufen, dann mit Ransmayr hatte ich auch schon nicht so begeisternde Begegnungen. Doch deine Besprechung macht sehr viel Lust auf das Buch!

    • Hallo Silvia,
      ich muss gestehen, dass „Cox oder Der Lauf der Zeit“ auch meine erste Begegnung mit Ransmayr wahr, habe also insoweit leider keinen Vergleich. Freut mich, wenn ich Dir mit meiner Besprechung wieder Lust auf diesen Autor machen konnte. Es gibt auch bei mir so Autoren mit denen ich immer wieder so meine zwiespältigen Erfahrungen mache, mal gefällt mir eines ihrer Bücher, dann wieder nicht. Jetzt würde mich natürlich auch brennend interessieren mit welchem Buch von Ransmayr Du eine nicht so begeisterte Erfahrung gemacht hast.
      Ganz liebe Grüße,
      Heike 😉

  2. Huhu!

    Oh, das klingt großartig, das Buch musste sofort auf meine Wunschliste! 🙂 Sehr schöne und umfassende Rezension.

    „Momo“ war übrigens eines meiner Lieblingsbücher als Kind, und ich denke heute noch öfter an die Grauen Herren, die Schildkröte Kassiopeia und besonders Beppo, den Straßenkehrer, wenn mir eine Aufgabe endlos und nicht zu schaffen vorkommt.

    Ist dir mal aufgefallen, dass in den letzten Woche überall von Zeit dir Rede ist? In der Werbung, in Liedtexten… Bei mir läuft im Moment viel dieses hier:
    https://www.youtube.com/watch?v=w-j_Iy25HGo

    LG,
    Mikka

    • Hallo Mikka,
      oh ja Schandmaul, finde ich auch wirklich klasse und Du hast recht, gerade begegnet man dem Thema Zeit quasi überall. Vielleicht liegt es daran, dass die Zeit eines der wenigen Dinge auf der Welt ist, die sich noch nicht steuern und beeinflussen lassen.
      Ganz liebe Grüße,
      Heike

  3. Hallo,
    danke für die schöne Rezension. Nachdem Denis Scheck das Buch im srf literaturclub so begeistert besprochen hat ist es auf meine Wunschliste gewandert, aber so ganz sicher, ob es mir gefällt war ich bisher nicht, da ich bisher auch noch kein Buch dieses Autors gelesen habe. Dein Text macht mir Mut 😉
    Bin gepannt, wie es mir gefallen wird (wenn es der Weihnachtsmann denn bringt…)
    Liebe Grüße
    Thomas

    • Hallo Thomas,
      mein Buchhändler hat mir dieses Buch wärmstens empfohlen und ich haben den Kauf keine Minute bereut. Wie ich auf Instagram gesehen habe hat der Weihnachtsmann das Buch gebracht (und noch so manch anderes, ein toller Weihnachtsmann…;-)) Bin gespannt darauf, wie es Dir gefällt und wünsche Dir viel Lesespaß. („Risiko“ von Steffen Kopetsky ist auch klasse und „Diese gottverdammten Träume“ steht bei mir auch noch auf der Wunschliste.)
      Liebe Grüße,
      Heike

  4. Hallo Heike,
    Danke, dass du dieses Buch vorgestellt hast. Mir war es bislang nicht über den Weg gelaufen, aber es hört sich extrem interessant an. Ich denke, dass ich gleich mal schaue, ob es als ebook zu haben ist und es mir dann kaufe.
    LG und ein schönes 4. Adventswochenende
    Yvonne

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